In den vergangenen Jahren hat sich die Basis der Typografie kaum verändert. Schriftgestalter:innen mussten bis vor kurzem in einem langwierigen Prozess die Schrift für jede nur erdenkliche Möglichkeit optimieren und an die Situation anpassen. Bei guten Schriften führt das manchmal zu mehr als 30 verschiedenen Schrift-Files, die je nach Bedarf auf einer Webseite eingebunden werden.
Die relativ junge Technik variable font weight wird als «the next big thing» gehandelt und soll die Schriftgestaltung und die Art wie man Schriften verwendet nachhaltig verändern. In diesem Beitrag erklären wir, was variable font weight ist und wie die ganze Technologie funktioniert. Wir gehen auch auf mögliche Probleme und die zukünftige Entwicklung ein.
Wie ist dieses neue Konzept entstanden?
Das Konzept von interpolierbaren Schriften gibt es schon länger. Schon in den frühen 90er Jahren hat Adobe mit seinen Multiple Master Fonts eine Lösung vorgestellt, welche sich mit dem nun aufstrebendem Standard einige Gemeinsamkeiten teilt. Nun wurde das Konzept aber wesentlich vereinfacht, verfeinert und wird ausserdem von mehreren führenden Tech-Giganten getragen. Mit Adobe, Apple, Google und Microsoft sind sowohl die grössten Browser, Betriebssysteme wie auch Hersteller von Grafikprogrammen an Bord. Es wird also von einer breiten Gruppe unterstützt. Ausserdem ist es Teil des OpenType File Formates.
Interpolier.. was?
Die Idee ist, dass die Gestalter:in bei der Erstellung einer neuen Schrift nicht mehr die einzelnen Schriftschnitte definiert und anschliessend einzeln exportiert, sondern nur noch ein File erstellen muss. In diesem definiert man sogenannte Achsen, welche einer Schrift vorgeben, wie sich beispielsweise die Strichstärke bei einer Veränderung - oder eben «Interpolation» - zu verhalten hat.
Nicht nur die sogenannte Fontweight kann mit einer Variablen angepasst werden, sondern es gibt noch einige andere vordefinierte Designachsen. Dazu gehören beispielsweise die Breite der Buchstaben, ob eine Schrift kursiv ist oder die Optical Size. Je nach Schrifttyp ist es möglich, stufenlos einzelne Werte festzulegen, womit man eine Schrift perfekt für seine Bedürfnisse anpassen kann.
Es können auch eigene Achsen, bzw. Variablen definiert werden. Dies ermöglicht Modifikationen, welche bis anhin undenkbar waren. Die einzelnen Parameter einer Schriftart werden damit veränderbar. Möchte man beispielsweise die Grossbuchstaben ein wenig grösser machen oder die i-Punkte eckig anstatt rund haben, kann man dies mit der richtigen Schrift nun konfigurieren.
Weitere Vorteile
Neben den vielseitigen Konfigurationen ist einer der grössten Vorteile, dass die Anzahl der Files deutlich reduziert werden kann. Nicht nur werden so der Aufbau und die Funktion einer Website vereinfacht und beschleunigt, sondern auch Tätigkeiten wie die Systemadministration werden so einfacher. Mit nur einem File kann man nun eine ganze Schrift mit all seinen Variationen installieren. Wir als Webagentur sind sehr neugierig, ob und wie stark sich die Summe der Filegrösse reduzieren wird. Ein weiterer Punkt, an dem wir sehr interessiert sind, ist die Möglichkeit, Icons auf dieselbe Art zu animieren und zu verändern. Dabei ist es sogar möglich, Farben einzubinden.
Status Quo
Der Support ist schon sehr weit fortgeschritten. Stand heute unterstützen bereits mehr als 93% der weltweiten Internetzugänge den Standard der variable font weight. Zumindest in den Browsern ist also die Möglichkeit gegeben. Was steht also einem breiten Gebrauch von variablen Schriften noch im Weg?
An dieser Stelle ist es wichtig zu sagen, dass sich Typografie nur sehr langsam verändert. Es werden jährlich weniger neue Schriften herausgebracht als prognostiziert und die am meisten verbreiteten sind häufig seit Jahrzehnten unverändert in Gebrauch. Die Schriftart Helvetica beispielsweise — eine der beliebtesten Schriften — wurde schon 1957 herausgebracht. Das Angebot ist aktuell noch überschaubar.
Auch supporten zwar Browser den Standard schon länger, aber einige Designprogramme bieten noch nicht genügende Optionen, um solche Schriften ausreichend zu konfigurieren. Hier wird sich aber voraussichtlich in den nächsten Jahren vieles weiterentwickeln.
Fazit
In dieser Schrifttechnologie steckt aus unserer Sicht ein enormes Potenzial. Auch wir haben bei einigen Projekten schon mit variablen Schriften gearbeitet und sind begeistert. Ich denke aber persönlich, dass die herkömmlichen Schriften nicht ersetzt werden, sondern eher mit den neuen Möglichkeiten ergänzt werden. Variable Schriften können oftmals nicht bis ins kleinste mikrotypografische Detail optimiert werden. Da die Mikrotypografie im Web im Gegensatz zu Print nicht so eine grosse Relevanz hat, kann ich mir gut vorstellen, dass variable Schriften zumindest Online vermehrt eingesetzt werden. Im Print denke ich persönlich nicht, dass die herkömmlichen Schriften ersetzt werden. Der Wandel ist aber auch eine Spiegelung der Transformation, wie wir Schriften einsetzen und konsumieren. Eine Schriftart muss heute in einer enormen Vielzahl von unterschiedlichen Einsatzorten von ganz gross bis ganz klein funktionieren; die Anforderungen sind also hoch.